Value Investing ist ein sehr weit gefasster Begriff. In der Presse wird er oftmals gleichgesetzt mit einer blinden Anwendung von Bewertungskennzahlen. Dabei handelt es sich natürlich um einen großen Irrtum. Auch wenn Bewertungen und die damit verbundenen Kennzahlen eine wichtige Rolle spielen, so machen sie nur einen kleinen Teil dieser Anlagestrategie aus.
Für Value Investing gibt es keine offizielle Definition. Jede AnlegerIn versteht darunter etwas anderes. Die hiesigen Ausführungen widerspiegeln deshalb meine persönliche Sicht auf das wertorientierte Investieren. Mein Wissen stammt mehrheitlich aus dem Studium der Betriebswirtschaft an den Universitäten Basel und St. Gallen, aus dem Eigenstudium erfolgreicher InvestorInnen (was sie getan und/oder geschrieben haben) und meiner Berufserfahrung als unabhängiger Vermögensverwalter seit 2012. Mein Eigenstudium beschränkte sich dabei nicht nur auf Value Investoren, sondern fokussierte auf sämtliche MarktteilnehmerInnen und Institutionen, die am Aktienmarkt während vielen Jahrzehnten erfolgreiche Investitionsentscheidungen getroffen haben. Dabei kann ich nur bestätigen, was Warren Buffett bereits 1984 in seinem Essay «The Superinvestors of Graham and Doddsville» schrieb: Das Value Investing hat viele erfolgreiche Anhänger (Warren Buffett, Charlie Munger, Seth Klarman, Bruce Greenblatt u.v.m.) und die Mehrheit der am Aktienmarkt erfolgreichen Investoren folgen diesem Gedankenkonstrukt. Trotzdem muss man festhalten, dass auch hier viele Wege nach Rom führen und neben dem wertorientierten Investieren auch Macro-, Momentum- und andere Strategien über längere Zeiträume erfolgreich angewendet werden können. Auch gibt es immer wieder längere Perioden, in welchen Value Investing verglichen mit dem Gesamtmarkt nicht gut abschneidet.
Wie Karl R. Popper im Buch «Objektive Erkenntnis» schrieb: "Der Praktiker muss zwischen mehr oder weniger wohl bestimmten Möglichkeiten wählen, denn auch Nichtstun ist eine Art des Handelns. Es gibt keine "absolute Verlässlichkeit"; doch da wir wählen müssen, ist es vernünftig, die bestgeprüfte Theorie zu wählen. Das ist vernünftig im unmittelbarsten Sinne des Wortes, den ich kenne: die bestgeprüfte Theorie ist diejenige, die im Lichte unserer kritischen Diskussion bis jetzt als die beste erscheint, und ich kann mir nichts Vernünftigeres vorstellen als eine gut geführte kritische Diskussion. Wenn wir die bestgeprüfte Theorie als Grundlage für unsere Handlungen wählen, dann "verlassen" wir uns natürlich in gewissem Sinne auf sie. Das bedeutet aber nicht, dass sie "verlässlich" wäre. Sie ist es jedenfalls in dem Sinne nicht, dass wir auch in der Praxis immer gut daran tun, damit zu rechnen, dass sich unsere Erwartungen vielleicht nicht bestätigen... es gibt unendlich viele Möglichkeiten lokaler und globaler Katastrophen."
Beim wertorientierten Investieren werden Aktien auf ihren inneren Wert hin untersucht und es wird nur dort investiert, wo dieser Wert deutlich höher ist als der Aktienkurs. Dieser Vergleich zwischen Preis (was man bezahlt) und Wert (was man erhält) ist das Fundament des Value Investing. Spekulanten kaufen Aktien, um sie später teurer zu verkaufen - unabhängig vom Wert einer Aktie. Value Investoren kaufen unterbewertete Aktien, um sie später zu einem fairen Wert zu verkaufen. Ein fairer Wert bedeutet, dass die erwartete Rendite beim Kauf einer Aktie etwa gleich hoch ist wie beim Kauf eines Aktienindex. Bietet eine Aktie risikobereinigt eine höhere erwartete Rendite als ein Aktienindex, dann ist sie unterbewertet (und umgekehrt).
Die zugrunde liegende Annahme dabei ist, dass sich der Börsenwert mittelfristig an den inneren Wert einer Aktie annähert. Die Betonung liegt auf mittelfristig. Wie alle unregulierten Preise werden auch Aktienkurse durch Angebot und Nachfrage bestimmt, weshalb sie stark schwanken und kurzfristig stark von den inneren Werten abweichen können. Dies lässt sich damit erklären, dass schon sehr kleine Volumenänderungen bei den gehandelten Aktien regelmäßig sehr große Auswirkungen auf die Preisbildung haben. Mittel- bis langfristig aber ist die Übereinstimmung dieser Annahme mit der Realität gut genug, um als Denkwerkzeug für einen Investor nützlich zu sein. So lässt sich empirisch beobachten, dass die mehrjährige durchschnittliche Eigenkapitalrendite einer Firma (wichtiger Indikator für den inneren Wert) und deren Preis-Buchwert-Verhältnis (wichtiger Indikator für die Börsenbewertung) in langjährigen Zeiträumen stark miteinander korrelieren. Auch stimmen der innere Wert und der Börsenkurs einer bankrotten Firma definitionsgemäß überein (beide betragen null). Und die Kurs-Gewinn-Verhältnisse (KGV) von Firmen bewegen sich meistens in einem Band, das gut mit einem auf der Barwertmethode berechneten Firmenwert übereinstimmt (ein KGV von 10-20 impliziert eine faire Rendite des Aktienmarktes von 5-10%). Wie Benjamin Graham, der Urvater des Value Investing, gesagt hat: "In the short-run, the market is a voting machine - reflecting a voter-registration test that requires only money, not intelligence or emotional stability - but in the long-run, the market is a weighing machine - assessing the substance of a company."
Das bedeutet aber nicht, dass es einen inneren/wahren Wert einer Firma auch tatsächlich gibt - die Welt ist in meinen Augen zu dynamisch für sein solch starres Konzept. Der Wert des Value Investing ist pragmatischer Natur - es hilft einem Börsenteilnehmer, gute Resultate zu erzielen - weshalb von einer tiefergehenden Diskussion dieses philosophischen Problems (Stichwort Essentialismus) bewusst abgesehen wird. Die Frage, ob es einen inneren Wert tatsächlich gibt, stellt sich für den Praktiker nicht. Auch wage ich zu behaupten, dass es für einen an echter Wertschöpfung interessierten Praktiker keine Alternative zum Value Investing gibt. Alle anderen mir bekannten Investmentstrategien beschäftigen sich nämlich mehr mit der Meinung der anderen Börsenteilnehmer (resp. ihrer Zahlungsbereitschaft für eine Aktie) als mit der Wertschöpfung einer Firma. Ein Value Investor verwendet für die konkrete Berechnung des inneren Wertes einer Aktie für gewöhnlich die Barwertmethode: Er schätzt, wie hoch die zukünftigen Geldflüsse, die eine Firma während ihrer Lebensdauer generiert, sein werden und diskontiert diese auf den heutigen Zeitpunkt. So erhält er den aktuellen Wert der zukünftigen Gewinne und kann diesen mit der Börsenkapitalisierung vergleichen. Er kann diesen Vergleich auch auf Ebene einer einzelnen Aktie tätigen, indem er sowohl die Marktkapitalisierung als auch den Barwert durch die Anzahl Aktien dividiert.
Von größter Wichtigkeit dabei ist, dass er sich bei der Firmenanalyse ausschließlich auf Firmen beschränkt, die er versteht, so dass er deren inneren Wert mit grosser Verlässlichkeit schätzen kann (Kompetenzradius). Verlässlichkeit darf dabei nicht verwechselt werden mit Genauigkeit. Wie John Maynard Keynes schon sagte, ist es besser «ungefähr richtig als präzise falsch» zu sein. Dabei werden bewusst keine Vorhersagen gemacht. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum zu glauben, erfolgreiche InvestorInnen müssten prophetische Fähigkeiten haben. Wie Steven Pinker treffend formulierte: «Keine Theorie kann Vorhersagen über die Welt im Allgemeinen treffen, mit ihren siebeneinhalb Milliarden Menschen, die in globalen Netzwerken virale Ideen verbreiten und in Wechselwirkung mit chaotischen Zyklen von Wetter und Ressourcen stehen». Der Kompetenzradius zeichnet sich viel mehr dadurch aus, dass man die wichtigsten Einflussfaktoren auf die zukünftige Firmenentwicklung (Industriedynamiken; Kompetitive Vorteile; Fähigkeit und Aktionärsorientierung des Managements; Ethische Überlegungen; Währungen; Politik; Regulierung u.v.m.) kennt und die damit verbunden Risiken verlässlich einschätzen kann. Dabei gilt es Einsteins Aussage im Kopf zu behalten, dass die Analysen «so einfach wie möglich, aber nicht einfacher» sein sollen. Auch ist gemäß Warren Buffett die Größe des Kompetenzradius nicht wichtig. Man kann mit sehr wenigen Investitionsentscheidungen sehr erfolgreich sein. Was zählt, ist, die eigenen Grenzen des Radius zu kennen und sich nur innerhalb von ihnen zu bewegen.
Wie oben bereits erwähnt, möchte ein Investor eine ansprechende Rendite erzielen. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie höher ist als diejenige eines breit diversifizierten Indexfonds. Heutzutage kann man solche Fonds sehr günstig kaufen, weshalb sie als vernünftige Messlatte für den Erfolg eines Investors dienen. Denn jede InvestorIn – vorausgesetzt, sie ist an echter Wertschöpfung interessiert – muss sich fragen «Warum sollen meine KundInnen etwas anderes kaufen als einen kostengünstigen, allgemein verfügbaren Aktienindex, wenn die Resultate schlechter und/oder die Kosten höher sind?» Die Rendite einer aktiven Vermögensverwaltung sollte also über der Rendite anderer verfügbarer Anlagemöglichkeiten liegen (Stichwort Opportunitätskosten).
So weit, so gut. Der Vergleich mit einer solchen Messlatte ist aber um einiges heimtückischer, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Es gilt auch hier zwischen Aktienkursschwankungen und Wertschöpfung zu unterscheiden. Mittel- bis langfristig konvergieren diese zwei Variablen, kurzfristig kann es zu großen Abweichungen kommen. Wo die Trennlinie zwischen kurz- und langfristig genau hinfällt, lässt sich objektiv nicht exakt bestimmen und hängt unter anderem von den Präferenzen der Geldgeber und den Fähigkeiten des Investors ab, seinen Einstieg gut zu timen. Ich persönlich erachte 3-7 Jahre als mittelfristig; alles darunter ist kurzfristig, alles darüber langfristig. Wie im Aktionärsbrief der Firma Alleghany treffend beschrieben wird: "For the long-term stockholder, we aim to produce attractive real returns with a very low chance of permanent capital loss. Of course, the performance of our stock price - which can be easily blown around like leaves on an autumn day - can deviate from market returns over relatively short (3-5 years) periods of time based on investor preferences, stock price momentum, and other factors beyond our control."
Um die Performance eines Investors auf korrekte Art und Weise mit einem Index zu vergleichen, muss man sich also folgenden Sachverhalt vor Augen führen: Ein wertorientierter Investor wählt von allen am Aktienmarkt verfügbaren Möglichkeiten diejenigen aus, die das attraktivste Risiko-Renditeverhältnis (u.a. grösste Diskrepanz zwischen Preis und Wert) aufweisen. Weil er etwas anders macht als der Markt, wird sein Portfolio auch anders schwanken. Das heißt, dass auch wenn er alles richtig macht und die inneren Werte der Aktien korrekt bestimmt, seine Performance trotzdem während mehreren Jahren schlechter sein kann als die eines Marktportfolios. Grund dafür sind die oben erwähnten Abweichungen zwischen Aktienwerten und -preisen. Eine solche Abweichung ist ja gerade der Grund, warum eine InvestorIn in eine bestimmte Aktie investiert. Wie lange eine solche Diskrepanz bestehen bleibt, ist a priori unmöglich vorherzusagen. Einige Thesen funktionieren sehr schnell (wenige Wochen bis Monate), andere benötigen dafür mehrere Jahre. Wiederum andere funktionieren gar nicht. Zudem ist der Prozess der Wertaufholung nicht linear und kann jederzeit erfolgen. Es gibt keine zuverlässigen Auslöser, die eine Wertaufholung verursachen.
Szenarien und Wahrscheinlichkeiten spielen eine wichtige Rolle. Selbst wenn man bei der Analyse alles richtig macht und sich die Welt wie erwartet entwickelt, muss ein einzelnes Investment nicht mit Sicherheit funktionieren. Wenn man die Erfolgschancen auf 80% schätzt, dann gibt es auch bei korrekter Analyse eine Wahrscheinlichkeit von 20%, dass eine Investition nicht funktioniert. Bei 10 Investitionen beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens ein Fehler passiert, unter diesen Annahmen 11%. Es ist also für ein einzelnes Investment fast nicht möglich, ausgehend vom Resultat Rückschlüsse auf die Qualität der ursprünglichen Entscheidung zu ziehen. Auf Portfolioebene dürfte sich die Qualität der Entscheidungen mittelfristig (d.h. nach 3-7 Jahren) in den Resultaten wiederspiegeln. Wenn man 10 Entscheidungen mit Erfolgschance von je 80% macht, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass keine Entscheidung wie geplant funktioniert, weniger als 0.00002%. Sollte dieses Szenario eintreffen, so müsste ein Investor wohl zugeben, dass er bei seiner Analyse viele Fehler gemacht hat.
Neben dem oben beschriebenen Kompetenzradius gibt es noch drei weitere Instrumente für ein verlässliches Risikomanagement. Eine Investition wird nur dann getätigt, wenn der Preis einer Aktie deutlich unter ihrem inneren Wert liegt. Je höher dieser Abschlag resp. diese Sicherheitsmarge, desto besser. Sie ermöglicht eine hohe Rendite und schützt vor analytischen Fehlern und unvorhersehbaren Ereignissen. Ein weiterer Schutzmechanismus ist die Diversifikation über verschiedene Währungen, Firmen und Industrien hinweg. Dabei muss aber sichergestellt werden, dass die Qualität der Investitionen mit steigender Anzahl nicht schneller abnimmt als deren Risiken. Keine Investorin ist erfolgreich, wenn sie im Namen einer breiten Risikostreuung viele schlechte Investitionsentscheidungen trifft. Ein Mindestmass an Diversifikation wird sichergestellt durch die Limitierung der Maximalgrösse einer Position im Portfolio. Das wohl wichtigste Instrument zur Risikoreduktion ist die Falsifizierung der eigenen Investmentideen. Wenn man die eigenen Ideen kritisch beleuchtet und geübt ist darin, diese zu falsifizieren, dann kann man vermeiden, dass der Aktienmarkt diese Aufgabe übernimmt – was deutlich teurer und unangenehmer ist.
Leider sind trotz einer qualitativ hochstehenden Analyse, Einhaltung einer Sicherheitsmarge, Diversifikation und Falsifikation der eigenen Investmentthesen nicht alle Risiken vermeidbar. Wie Karl R. Popper treffend schreibt: «…so müssen wir zugeben, dass eben die Sonne morgen in London auch nicht aufgehen kann - beispielsweise, weil sie in der nächsten halben Stunde explodieren könnte, so dass es gar kein Morgen mehr gäbe. Natürlich ziehen wir diese Möglichkeit nicht "ernsthaft" - d.h. pragmatisch - in Betracht, weil sie zu keiner Handlung Anlass geben würde: wir können einfach nichts dagegen machen."
Samuel S. Weber, M.A. SIM-HSG
Zug, 23.01.2020
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