Jeder langjährige Aktionär kennt das mulmige Gefühl, wenn er auf seinen Vermögensausweis blickt und erschreckt feststellt, dass die Aktienkurse in das scheinbar Bodenlose fallen. Wer schaut schon gerne dabei zu, wie sich sein Vermögen in Luft auflöst? Auch wenn diese Argumentation auf den ersten Blick richtig erscheint, ist sie bestenfalls falsch, schlimmstenfalls führt sie in den finanziellen Ruin.
Firmen können aus verschiedensten Gründen kurzfristig von der Börse abgestraft werden. Der Aktienpreis ergibt sich ja, wie die meisten anderen Preise auch, aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Aktien existieren aber nicht in einem luftleeren Raum, sondern repräsentieren Eigentumsrechte an realen Firmen. Diese Eigentumsrechte können in ihrer Gesamtheit nicht verkauft werden - Aktionäre verkaufen ihre Aktien immer an andere Aktionäre. Schaut man sich die langfristige Geschäftsentwicklung einer Firma an, so wird diese vom Aktienmarkt nicht auf Dauer ignoriert. Firmen, die ihr Kapital während Jahren profitabel verwalten und eine zufriedenstellende durchschnittliche Eigenkapitalrendite und Gewinnwachstum erwirtschaften, werden auch bei der Aktienkursentwicklung langfristig nicht enttäuschen. Der Erfolg der Aktionäre hängt vom Geschäftserfolg der Firmen ab.
Das grösste Risiko bei einer Aktienanlage ist ein permanenter, realer Wertverlust. Permanent, weil temporäre Kursschwankungen für langfristige Anleger irrelevant sind. Real, weil in einer inflationären Welt nominale von realen Wertveränderungen unterschieden werden müssen. Kurzfristige Kursschwankungen gilt es deshalb von permanenten Wertverlusten analytisch zu unterscheiden. Stellen Sie sich einen Bauern vor, der von einem Interessenten ein Angebot von einer Million Franken für seinen Bauernhof erhält und sich gegen einen Verkauf entscheidet. Am nächsten Tag bietet ein anderer Interessent für denselben Bauernhof ein Drittel dieses Preises. Hat der Bauernhof nun weniger wert? Soll der Bauer seinen Hof jetzt verkaufen? Eher nicht! Benjamin Graham, Vater der Wertpapieranalyse und Lehrer von Warren Buffett, hat diesbezüglich die fiktive Person «Mr. Market» erfunden. Wenn man Aktien kaufen oder verkaufen möchte, dann bietet Mr. Market zuverlässig einen Preis, zu welchem er bereit ist, die Aktien zu handeln. Das einzige Problem dabei ist, dass Mr. Market an manisch-depressiven Stimmungsschwankungen leidet. Je nach Stimmungslage verlangt er verschiedene Preise für dieselben Aktien. Wenn man sich als Investor von Mr. Market leiten lässt, dann kauft man teuer und verkauft billig. Benjamin Graham’s Rat lautete daher, dass man Mr. Market als Transaktionspartner sehen muss, nicht als Entscheidungshilfe.
Mit Erstaunen stelle ich fest, dass dieser Rat von vielen Marktteilnehmern missachtet wird. Sinkt der Kurs einer Aktie, dann steigt bei den meisten Aktionären die Wahrscheinlichkeit, dass sie verkaufen. Sicherlich spielen eingangs beschriebene Instinkte eine grosse Rolle. Menschen assoziieren temporäre mit permanenten Kursverlusten und tendieren zu Überreaktionen. Sie schauen darauf, was andere Leute tun, behandeln Mr. Market als Autorität und schaffen Fakten, anstatt Unsicherheit über längere Zeit auszuhalten. Dies wird unterstützt durch eine Medienberichterstattung, die für jede zufällige Kursschwankung eine Vielzahl von Gründen anbringt und so die bestehende Stimmungslage verstärkt.
Einen weiteren wichtigen Grund vermute ich in unseren Ausbildungsinstitutionen, die seit Jahrzehnten die moderne Portfoliotheorie lehren. Aufgrund von mehreren unrealistischen Annahmen kommt diese zur Konklusion, dass Volatilität gleich Risiko ist. Je stärker der Kurs einer Aktie schwankt, desto grösser das Risiko. Diese Sichtweise führt zu teilweise absurden Schlussfolgerungen. Nehmen wir an, der Aktienkurs einer Firma fällt stärker als der Preis eines Marktindex. Der Betafaktor der Aktie steigt, sprich deren Kauf ist gemäss Portfoliotheorie nach dem Kursverfall riskanter als vor dem Kursverfall. In Wirklichkeit aber kann man die Firma und deren Ertragskraft günstiger kaufen, was ein geringeres Risiko bei zugleich höherem Renditepotenzial bedeutet. Volatilität erhöht die Chancen, nicht das Risiko, für langfristige Anleger.
Grossen Schaden richtet dieses Falschverständnis von Risiko im Schweizer Pensionssystem an. Gemäss Bundesamt für Statistik betrug das Schweizer Pensionskassenvermögen Ende 2016 824 Milliarden Franken. Die Aktienquote war um 2% tiefer als die Obligationenquote von 32%. Anleihen zahlen im Unterschied zu Aktien einen fixen Zinssatz – risikolos, wenn man das Risiko in Schwankungen misst, aber sehr riskant in der realen, inflationären Welt. Wenn man heute in 10-jährige Schweizer Staatsanleihen investiert, erhält man den aktuellen Zins von 0.12%. Diese Rendite ist «sicher» – sie schwankt nicht und der Schweizer Staat wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den nächsten 10 Jahren nicht Bankrott gehen. Solange die Inflation höher als 0.12% bleibt, erzielt man als Käufer einer solchen Anleihe einen «sicheren» realen Wertverlust. Sollte die Inflation unerwartet stark anziehen, dann wäre der reale Wertverlust sogar noch deutlich höher. Sehr riskant, wenn man bedenkt, dass die Inflation in der Schweiz in den letzten 100 Jahren bei durchschnittlich 2% und zeitweise sogar bei mehr als 10% lag.
Ein weiteres Argument dafür, dass Schweizer Pensionskassen die Aktienquote erhöhen sollten, zeigt ein historischer Renditevergleich von Aktien und Obligationen. Seit Beginn 1988 lieferten 10-jährige Schweizer Staatsanleihen eine durchschnittliche Rendite von 3% pro Jahr, verglichen mit 9% für den Swiss Performance Index (SPI). Die jährliche Überrendite von 6% dürfte das zusätzliche Risiko, das mit Investitionen in ein diversifiziertes Aktienportfolio einhergeht, deutlich überkompensiert haben. Historisch gesehen gab es also keine sicherere langfristige Anlageklasse als Aktien.
Umso mehr erstaunt die Aussage von Johann Schneider-Ammann im Magazin "Swiss Venture Capital": «I have been in contact with Henri B. Meier and the others behind the idea of the Swiss Future Fund for several years. It turns out that it will not be easy to implement this idea: pension funds are designed primarily for less risky investment." Das heutige Portfolio der Pensionskassen ist in keiner Weise wenig riskant. Im Gegenteil, es wird mit «Sicherheit» eine niedrige Rendite erzielen und grosse Opportunitätskosten verursachen. Als ehemaliger Verwaltungsrat der Swatch Group sollte Herr Schneider-Ammann eigentlich wissen, dass das Risiko einer Aktie nicht durch deren Volatilität definiert wird. In den letzten 20 Jahren ist der Kurs der Swatch Inhaberaktie dreimal um mehr als 50% gefallen. Trotzdem ist er seit 1998 von 80 auf aktuell 480 CHF gestiegen – eine jährliche Rendite von mehr als 10%, inklusive Dividenden.
Auch der Schweizer Zukunftsfonds ist auf ein vernünftiges Risikoverständnis angewiesen. Wenn fähige Leute in ein Portfolio von Start-ups investieren, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass einige dieser Start-ups erfolgreich sein werden hoch und das Risiko eines permanenten realen Kapitalverlusts klein. Dr. Henri B. Meier, Initiant des Schweizer Zukunftsfonds, hat dies mit der von ihm 2001 gegründeten Firma HBM Healthcare gezeigt. Alleine in diesem Jahr beträgt die Überrendite dieser Aktie gegenüber dem SPI mehr als 16%. Seit dem Börsengang 2008 hat sich der Aktienkurs trotz zwischenzeitlichem Tief bei 20 CHF von 80 auf 156 CHF erhöht und inklusive Dividenden eine kumulierte Aktionärsrendite von über 110% generiert – jährlich ca. 8% verglichen mit 5% für den SPI.
Das Hochlohnland Schweiz muss langfristig in technologisch führende Unternehmen investieren, wenn es den hohen, aber teuren Lebensstandard für die Zukunft sichern will. Was eignet sich dafür besser als langfristiges Pensionskassenvermögen, welches zurzeit schwankungslos – aber riskant – investiert wird?
Samuel S. Weber, M.A. SIM-HSG
Zug, 02.05.2018
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